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Anmerkung
Alle Tätigkeiten, welche aus Affekten folgen, die sich auf den Geist beziehen, sofern er erkennt, rechne ich zur Geisteskraft, an welcher ich die Seelenstärke[229] und den Edelmut unterscheide. Unter Seelenstärke verstehe ich die Begierde, wonach jemand bestrebt ist, sein eigenes Sein nach dem bloßen Gebot der Vernunft zu erhalten. Unter Edelmut aber verstehe ich die Begierde, wonach jemand bestrebt ist, nach dem bloßen Gebot der Vernunft seinen Mitmenschen wohlzutun und sie sich durch Freundschaft zu verbinden. Die Handlungen also, welche den Nutzen des Handelnden allein bezwecken, rechne ich zur Seelenstärke, die, welche den Nutzen eines andern bezwecken, zum Edelmut. Mäßigkeit, Nüchternheit, Geistesgegenwart in Gefahren usw. sind also Arten der Seelenstärke; Leutseligkeit, Milde usw. hingegen sind Arten des Edelsinns.
Damit glaube ich, die wichtigsten Affekte und die Schwankungen des Gemüts, welche aus der Verbindung der drei Hauptaffekte: Begierde, Lust und Unlust, entspringen, erklärt und auf ihre ersten Ursachen zurückgeführt zu haben. Es erhellt daraus, daß wir von äußern Ursachen auf vielerlei Arten hin und her bewegt werden und wie die von entgegengesetzten Winden aufgeregten Meereswellen dahin und dorthin schwanken, unkundig unseres Verhängnisses und Schicksals.
Ich habe indes schon gesagt, daß ich nur die wichtigsten Erregungen des Gemüts erörtert habe, nicht alle, die es geben kann. Denn wir könnten, auf demselben Wege wie bisher weitergehend, leicht zeigen, daß sich die Liebe mit der Reue, der Geringschätzung, der Scham usw. verbindet. Ja, es wird sich, wie ich glaube, einem jeden aus den bisherigen Ausführungen klar ergeben, daß die Affekte auf so vielerlei Weisen sich miteinander verbinden und daß daraus so mannigfaltige Arten von Affekten entstehen können, daß es keine Zahl dafür gibt. Für meinen Zweck genügt es aber, nur die wichtigsten aufgezählt zu haben; denn die übrigen, die ich unerwähnt ließ, hätten mehr ihrer Seltsamkeit als ihres Nutzens wegen Interesse.[230]
Von der Liebe ist jedoch noch etwas zu bemerken. Es kommt nämlich sehr oft vor, daß, wenn wir den Gegenstand, nach welchem wir Verlangen hatten, genießen, der Körper durch diesen Genuß eine Veränderung seines Zustandes (Verfassung, Beschaffenheit) erfährt, so daß er anders bestimmt wird, und Vorstellungen anderer Dinge in ihm wachgerufen werden; womit zugleich der Geist sich etwas anderes vorzustellen und etwas anderes zu wünschen beginnt. Wenn wir uns z.B. etwas vorstellen, was uns durch seinen Geschmack zu ergötzen pflegt, begehren wir, es zu genießen, d.h., zu essen. Während wir es aber genießen, wird der Magen angefüllt, und der Körper gelangt damit in einen andern Zustand. Wenn also, während der Zustand des Körpers bereits ein anderer geworden, die Vorstellung dieser Speise, weil sie selbst gegenwärtig ist, noch lebhafter wird und folglich auch das Bestreben oder die Begierde, sie zu essen, so wird dieser Begierde oder diesem Bestreben dieser neue Zustand widerstreben, und folglich wird die Gegenwart der Speise, nach der wir Verlangen hatten, verhaßt. Das ist es, was man Überdruß und Ekel nennt.
Übrigens habe ich die äußern Körpererregungen, welche bei den Affekten beobachtet werden, wie das Zittern, das Erbleichen, das Schluchzen, das Lachen usw., beiseite gelassen, weil sie den Körper allein betreffen und keinerlei Beziehungen zum Geiste haben.
Schließlich ist noch einiges über die Definitionen der Affekte zu bemerken. Ich werde sie daher hier der Reihe nach wiederholen und was bei jedem noch zu beachten ist einfügen.[231]
Definitionen der Affekte
I
Begierde ist des Menschen Wesen selbst, sofern es als durch irgendeine gegebene Erregung desselben zu einer Tätigkeit bestimmt begriffen wird.
Erläuterung
Ich habe oben in der Anmerkung zu Lehrsatz 9 dieses Teils gesagt, die Begierde sei ein Verlangen mit dem Bewußtsein desselben. das Verlangen aber sei des Menschen Wesen selbst, sofern es bestimmt ist, das zu tun, was zu seiner Erhaltung dient. In derselben Anmerkung habe ich aber auch bemerkt, daß ich zwischen dem menschlichen Verlangen und der Begierde keinen Unterschied anerkenne. Denn mag der Mensch sich seines Verlangens bewußt sein oder nicht, so bleibt doch das Verlangen eins und dasselbe. Darum habe ich, um mich nicht einer scheinbaren Tautologie schuldig zu machen, die Begierde nicht durch Verlangen erklären wollen, sondern sie in einer Weise zu definieren gesucht, daß damit alle Bestrebungen der menschlichen Natur, die wir mit dem Namen Verlangen Wille, Begierde oder Trieb bezeichnen, zusammengefaßt sind. Denn ich hätte sagen können: »Die Begierde ist des Menschen Wesen selbst, sofern es als zu irgendeiner Tätigkeit bestimmt begriffen wird.« Aber aus dieser Definition würde (nach Lehrsatz 23, Teil 2) nicht folgen, daß der Geist seiner Begierde oder seines Verlangens sich bewußt sein könne. Um daher die Ursache dieses Bewußtseins einzuschließen, war es nötig (nach demselben Lehrsatz) hinzuzufügen: »durch irgendeine gegebene Erregung desselben«. Denn unter Erregung des menschlichen Wesens verstehen wir jeden Zustand (Verfassung, Beschaffenheit) seines Wesens, mag derselbe angeboren sein, mag er durch das bloße Attribut des Denkens oder durch das bloße Attribut der Ausdehnung begriffen werden oder mag er sich auf beide zugleich beziehen. – Hier[232] also verstehe ich unter dem Namen Begierde jedes Streben, jeden Trieb, jedes Verlangen und jedes Wollen, die nach den verschiedenen Zuständen desselben Menschen verschieden und nicht selten einander so sehr entgegengesetzt sind, daß der Mensch nach verschiedenen Richtungen gezogen wird und nicht weiß, wohin er sich wenden soll.
II
Lust ist Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit.
III
Unlust ist Übergang des Menschen von größerer zu geringerer Vollkommenheit.
Erläuterung
Ich sage Übergang. Denn Lust ist nicht selbst Vollkommenheit. Denn wenn der Mensch mit der Vollkommenheit, zu welcher er übergeht, geboren würde, so wäre er ohne den Affekt der Lust im Besitze derselben. Dies ergibt sich deutlicher aus dem Affekt der Unlust, welcher dem Affekt der Lust gegenübersteht. Denn daß die Unlust im Übergang zu geringerer Vollkommenheit besteht, nicht aber in der geringeren Vollkommenheit selbst, kann niemand bestreiten, da ja der Mensch insofern nicht Unlust empfinden kann, sofern er irgendeiner Vollkommenheit teilhaftig ist. Auch können wir nicht sagen, daß die Unlust im Mangel einer größeren Vollkommenheit besteht. Denn Mangel ist nichts, der Affekt der Unlust aber ist ein Vorgang und kann daher nichts anderes sein als der Vorgang des Übergangs zu geringerer Vollkommenheit, d.h. der Vorgang, durch welchen das Tätigkeitsvermögen des Menschen vermindert oder gehemmt wird (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils).
Die Definitionen von Wohlbehagen und Wollust, Mißbehagen und Schmerz übergehe ich, weil sie sich hauptsächlich[233] auf den Körper beziehen und nichts sind als Arten der Lust und Unlust.
IV
Bewunderung ist die Vorstellung eines Dinges, in welcher der Geist deshalb versunken bleibt, weil diese besondere Vorstellung keine Verbindung mit den sonstigen Vorstellungen hat (s. Lehrsatz 52 dieses Teils mit seiner Anmerkung).
Erläuterung
In der Anmerkung zu Lehrsatz 18 im zweiten Teil habe ich gezeigt, welche Ursache es bewirkt, daß der Geist aus der Betrachtung eines Dinges sofort auf den Gedanken eines andern Dinges verfällt: weil nämlich die Vorstellungen dieser Dinge miteinander verkettet und so geordnet sind, daß die eine auf die andere folgt. Dies ist aber nicht denkbar, wenn die Vorstellung eines Dinges eine neue ist, dann wird vielmehr der Geist in der Betrachtung dieses Dinges festgehalten, bis er von andern Ursachen bestimmt wird, etwas anderes zu denken.
Die Vorstellung eines neuen Dinges ist also, an sich betrachtet, von gleicher Natur wie die übrigen Vorstellungen. Aus diesem Grunde zähle ich die Bewunderung nicht zu den Affekten. Ich sehe auch gar keinen Grund, dies zu tun, da ja dieses Abgezogensein des Geistes nicht aus irgendeiner positiven Ursache entspringt, die den Geist von andern Dingen abzieht, sondern nur daraus, daß keine Ursache vorhanden ist, durch welche der Geist bestimmt wird, bei der Betrachtung eines Dinges an andere Dinge zu denken.
Ich erkenne also (wie ich in der Anmerkung zu Lehrsatz 11 dieses Teils bemerkt habe) nur drei Haupt- oder primäre Affekte an, nämlich Lust, Unlust und Begierde, und ich sah mich nur deshalb veranlaßt, von der Bewunderung zu reden, weil es gebräuchlich geworden ist, daß gewisse Affekte, welche von den drei Hauptaffekten abgeleitet[234] werden, mit andern Namen bezeichnet werden, wenn sie sich auf Objekte beziehen, die wir bewundern. Der gleiche Grund veranlaßt mich, hier noch die Definition der Verachtung beizufügen.
V
Verachtung ist die Vorstellung eines Dinges, welche den Geist so wenig berührt, daß der Geist durch die Gegenwart des Dinges mehr bewegt wird, das vorzustellen, was an dem Ding nicht ist, als was an ihm ist (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 52 dieses Teils).
Die Definitionen der Hochachtung und der Geringschätzung lasse ich hier beiseite, weil meines Wissens keine Affekte ihren Namen von ihnen ableiten.
VI
Liebe ist Lust, verbunden mit der Idee einer äußern Ursache.
Erläuterung
Diese Definition drückt das Wesen der Liebe vollständig klar aus. Die Definition jener Schriftsteller aber, welche lautet: Liebe ist der Wille des Liebenden, sich mit dem geliebten Gegenstand zu verbinden, drückt nicht das Wesen der Liebe, sondern eine Eigenschaft derselben aus. Und weil das Wesen der Liebe von diesen Schriftstellern nicht genügend durchschaut wurde, konnten sie auch von ihrer Eigenschaft keinen klaren Begriff haben. Daher kommt es, daß man ihre Definition allgemein für eine sehr dunkle hält.
Wenn ich nun sage, es sei eine Eigenschaft des Liebenden, daß er den Willen habe, sich mit dem geliebten Gegenstand zu verbinden, so ist zu beachten, daß ich unter Willen nicht etwa die Zustimmung oder die Überlegung oder einen freien Entschluß verstehe (daß dies letztere eine reine Einbildung sei, habe ich im Lehrsatz 48, Teil 2, bewiesen). Auch meine ich damit nicht die Begierde, sich mit[235] dem geliebten Gegenstand zu verbinden, wenn er abwesend ist, oder in seiner Gegenwart zu verharren, wenn er anwesend ist; denn die Liebe kann auch ohne diese Begierde gedacht werden. Unter Willen verstehe ich hier die Befriedigung, welche den Liebenden bei der Gegenwart des geliebten Gegenstandes erfüllt und durch welche die Lust des Liebenden verstärkt oder mindestens genährt wird.
VII
Haß ist Unlust, verbunden mit der Idee einer äußern Ursache.
Erläuterung
Was hier zu bemerken ist, kann dem, was in der Erläuterung zur vorigen Definition gesagt ist, leicht entnommen werden (s. außerdem die Anmerkung zu Lehrsatz 13 dieses Teils).
VIII
Zuneigung ist Lust, verbunden mit der Idee eines Dinges, welches zufällig (gelegentlich, durch einen Nebenumstand) Ursache der Lust ist.
IX
Abneigung ist Unlust, verbunden mit der Idee eines Dinges, welches zufällig Ursache der Unlust ist (s. darüber die Anmerkung zu Lehrsatz 15 dieses Teils).
X
Ergebenheit ist Liebe zu jemand, den wir bewundern.
Erläuterung
Daß die Bewunderung aus der Neuheit eines Gegenstandes entspringt, habe ich im Lehrsatz 52 dieses Teils[236] gezeigt. Wenn wir uns nun das, was wir bewundern, oft vorstellen, so hören wir auf, es zu bewundern. Darum sehen wir, daß der Affekt der Ergebenheit leicht in einfache Liebe übergeht.
XI
Verhöhnung (Spott) ist Lust, daraus entsprungen, daß wir uns vorstellen, es sei etwas, das wir verachten, an einem Gegenstand, den wir hassen.
Erläuterung
Sofern wir einen Gegenstand, den wir hassen, verachten, insofern sprechen wir ihm Existenz ab (s. Anmerkung zu Lehrsatz 52 dieses Teils) und insofern (nach Lehrsatz 20 dieses Teils) empfinden wir Lust.
Da wir aber annehmen, daß der Mensch das, was er verhöhnt, auch haßt, so folgt, daß diese Lust keine innige ist (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 47 dieses Teils).
XII
Hoffnung ist unbeständige Lust, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges (Sache), über dessen Ausgang wir in gewisser Hinsicht im Zweifel sind.
XIII
Furcht ist unbeständige Unlust, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges (Sache), über dessen Ausgang wir in gewisser Hinsicht im Zweifel sind (s. hierüber die 2. Anmerkung zu Lehrsatz 18 dieses Teils).
Erläuterung
Aus diesen Definitionen folgt, daß es keine Hoffnung gibt ohne Furcht und keine Furcht ohne Hoffnung. Denn von jemand, der in Hoffnung schwebt und über den Ausgang[237] einer Sache zweifelt, wird angenommen, daß er sich etwas vorstellt, was die Existenz dieser zukünftigen Sache ausschließt und also insofern Unlust empfindet (nach Lehrsatz 19 dieses Teils) und folglich, während er in Hoffnung schwebt, fürchtet, die Sache möchte nicht eintreffen. – Wer hingegen in Furcht ist, d.h., über den Ausgang einer Sache, die er haßt, zweifelt, stellt sich ebenfalls etwas vor, was die Existenz dieser zukünftigen Sache ausschließt, und folglich (nach Lehrsatz 20 dieses Teils) empfindet er Lust und hat also insofern Hoffnung, daß die Sache nicht eintreffen werde.
XIV
Zuversicht ist Lust, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, bei welchem die Ursache des Zweifelns geschwunden ist.
XV
Verzweiflung ist Unlust, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, bei welchem die Ursache des Zweifelns geschwunden ist.
Erläuterung
Aus Hoffnung wird also Zuversicht und aus Furcht Verzweiflung, wenn die Ursache des Zweifelns über den Ausgang der Sache schwindet, entweder weil der Mensch sich das vergangene oder zukünftige Ding als seiend vorstellt und als gegenwärtig betrachtet, oder weil er sich etwas vorstellt, was die Existenz der Dinge, die ihm Zweifel erregen, ausschließt. Denn wenn wir auch über den Ausgang (Verlauf) der Einzeldinge (nach Zusatz zu Lehrsatz 31, Teil 2) niemals gewiß sein können, so kann doch das der Fall sein, daß wir über ihren Ausgang nicht zweifeln. Denn wie ich gezeigt habe (s. Anmerkung zu Lehrsatz 49, Teil 2), ist es ein anderes, über ein Ding nicht zweifeln, und ein anderes, über ein Ding Gewißheit haben.[238] Daher ist es wohl möglich, daß wir durch die Vorstellung eines vergangenen oder zukünftigen Dinges von gleichem Affekt der Lust oder Unlust erregt werden wie durch die Vorstellung eines gegenwärtigen Dinges, wie ich im Lehrsatz 18 dieses Teils bewiesen habe; s. diesen samt seiner Anmerkung.
XVI
Freude ist Lust, verbunden mit der Idee eines vergangenen Dinges, welches unverhofft eingetroffen ist.
XVII
Gewissensbiß ist Unlust, verbunden mit der Idee eines vergangenen Dinges, welches unerwartet eingetroffen ist.
XVIII
Mitleid ist Unlust, verbunden mit der Idee eines Übels, das einem andern, den wir uns als unseresgleichen vorstellen, begegnet ist (s. die Anmerkung zu Lehrsatz 22 und die Anmerkung zu Lehrsatz 27 dieses Teils).
Erläuterung
Zwischen Mitleid und Mitgefühl (Barmherzigkeit) scheint kein Unterschied zu sein, wenn nicht vielleicht der, daß Mitleid den einzelnen Affekt bezeichnet, Barmherzigkeit aber die entsprechende Gemütsanlage.
XIX
Gunst ist Liebe zu jemand, der einem andern Gutes getan.
XX
Entrüstung ist Haß gegen jemand, der einem andern Böses getan.
[239]
Erläuterung
Ich weiß, daß diese Namen im gewöhnlichen Sprachgebrauch etwas anderes bedeuten. Meine Absicht ist aber nicht, die Bedeutung der Wörter, sondern die Natur der Dinge zu erläutern und sie mit solchen Ausdrücken zu bezeichnen, deren gebräuchlicher Sinn von demjenigen, in welchem ich sie gebrauche, nicht ganz abweicht. Diese Bemerkung mag ein für allemal genügen.
Über die Ursache dieser Affekte s. Zusatz zu Lehrsatz 27 und Anmerkung zu Lehrsatz 22 dieses Teils.
XXI
Überschätzung ist, von jemand aus Liebe eine größere Meinung haben, als recht ist.
XXII
Unterschätzung ist, von jemand aus Haß eine geringere Meinung haben, als recht ist.
Erläuterung
Sonach ist Überschätzung eine Wirkung oder Eigenschaft der Liebe, Unterschätzung eine Wirkung oder Eigenschaft des Hasses. Man kann daher die Überschätzung auch definieren als Liebe, sofern sie den Menschen so erregt, daß er von dem geliebten Gegenstand eine größere Meinung hat, als recht ist: die Unterschätzung als Haß, sofern sie den Menschen so erregt, daß er von dem gehaßten Gegenstand eine geringere Meinung hat, als recht ist (s. hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 26 dieses Teils).
XXIII
Mißgunst ist Haß, sofern er den Menschen so erregt, daß er sich über das Glück eines andern betrübt und sich dagegen über das Unglück eines andern freut.
Erläuterung
[240] Der Mißgunst wird gewöhnlich das Mitgefühl (Barmherzigkeit) gegenübergestellt, welches daher, gegen die wörtliche Bedeutung, wie folgt definiert werden kann.
XXIV
Mitgefühl (Barmherzigkeit) ist Liebe, sofern sie den Menschen so erregt, daß er sich über das Glück eines andern freut und sich dagegen über das Unglück eines andern betrübt.
Erläuterung
Siehe übrigens über Mißgunst die Anmerkung zu Lehrsatz 24 und die Anmerkung zu Lehrsatz 32 dieses Teils.
Dies sind die Affekte der Lust und Unlust, welche die Idee eines äußern Dinges als eigentliche oder als zufällige (gelegentliche) Ursache begleitet.
Ich gehe nunmehr zu andern Affekten über, welche die Idee eines innern Dinges als Ursache begleitet.
XXV
Selbstzufriedenheit ist Lust, daraus entsprungen, daß der Mensch sich selbst und sein Tätigkeitsvermögen betrachtet.
XXVI
Niedergeschlagenheit ist Unlust, daraus entsprungen, daß der Mensch sein Unvermögen oder seine Schwäche betrachtet.
Erläuterung
Selbstzufriedenheit ist der Gegensatz zu Niedergeschlagenheit, sofern wir darunter Lust verstehen, welche daraus entspringt, daß wir unser Tätigkeitsvermögen betrachten. Sofern wir darunter aber Lust verstehen, die von der Idee[241] einer Tat begleitet ist, welche wir aus freier Entschließung des Geistes getan zu haben glauben, ist sie Gegensatz zur Reue, welche von mir wie folgt definiert wird.
XXVII
Reue ist Unlust, begleitet von der Idee einer Tat, die wir aus freier Entschließung des Geistes getan zu haben glauben.
Erläuterung
Die Ursache dieser Affekte habe ich in der Anmerkung zu Lehrsatz 51 dieses Teils und in den Lehrsätzen 53, 54 und 55 dieses Teils nebst der Anmerkung dazu dargetan. Über den freien Entschluß des Geistes aber siehe die Anmerkung zu Lehrsatz 35 des zweiten Teils.
Es muß hier außerdem noch bemerkt werden, daß man sich nicht darüber zu wundern braucht, daß überhaupt auf alle Taten, welche man für unrecht hält, Unlust, auf solche aber, die man für recht hält, Lust folgt. Es hängt dies nämlich hauptsächlich von der Erziehung ab, was wir dem Obigen leicht entnehmen können. Denn da die Eltern die ersteren tadelten und die Kinder ihretwegen häufig schalten, wogegen sie die andern empfahlen und lobten, bewirkten sie, daß sich mit den ersteren die Regungen der Unlust, mit den andern die der Lust verbanden. Dies wird auch durch die Erfahrung bestätigt. Denn Gewohnheit und Religion sind nicht bei allen Menschen gleich, vielmehr ist dem einen heilig, was dem andern unheilig ist, und was bei diesem für ehrbar gilt, gilt jenem für schändlich. Je nachdem also der Mensch erzogen ist bereut er eine Tat oder rühmt er sich derselben.
XXVIII
Hochmut (Stolz) ist, aus Liebe zu sich selbst eine größere Meinung von sich haben, als recht ist.
Erläuterung
[242] Hochmut unterscheidet sich also dadurch von der Überschätzung, daß sich diese auf ein äußeres Objekt bezieht, jener aber auf den Menschen selbst, der eine größere Meinung von sich hat, als recht ist. Wie übrigens die Überschätzung eine Wirkung oder Eigenschaft der Liebe ist, so ist der Hochmut eine Wirkung oder Eigenschaft der Selbstliebe. Man kann ihn also auch definieren als: Liebe zu sich selbst oder Selbstzufriedenheit, sofern sie den Menschen so erregt, daß er von sich eine größere Meinung hat, als recht ist (s. Anmerkung zu Lehrsatz 26 dieses Teils).
Zu diesem Affekt gibt es keinen Gegensatz. Denn niemand hat aus Haß gegen sich selbst eine geringere Meinung von sich, als recht ist. Ja, es hat auch dann niemand eine zu geringe Meinung von sich, wenn er sich vorstellt, daß er dies oder jenes nicht vermag. Denn wenn sich der Mensch vorstellt, daß er etwas nicht vermag, so beruht diese Vorstellung auf Notwendigkeit, und diese Vorstellung disponiert ihn so, daß er tatsächlich nichts zu tun vermag, wovon er sich vorstellt, daß er es nicht vermag. Denn solange er sich vorstellt, daß er das oder jenes nicht vermag, solange ist er nicht bestimmt, es zu tun, und folglich ist es ihm so lange auch nicht möglich, dies zu tun.
Wenn wir freilich nur das ins Auge fassen, was von der Meinung allein abhängt, so werden wir allerdings die Möglichkeit denken können, daß der Mensch eine zu geringe Meinung von sich hat. Ist es doch möglich, daß ein Trauriger, indem er seine Schwäche betrachtet, sich vorstellt, er werde von jedermann verachtet, während kein Mensch daran denkt, ihn zu verachten. – Außerdem kann der Mensch eine zu geringe Meinung von sich haben, wenn er sich in der Gegenwart eine Fähigkeit abspricht in bezug auf die Zukunft, über die er keine Gewißheit hat, z.B. wenn er sich die Fähigkeit abspricht, etwas als gewiß begreifen zu können, oder wenn er sich einbildet, nur schändliche[243] und verächtliche Dinge begehren und tun zu können usw. – Ferner können wir sagen, daß jemand zu gering von sich denkt, wenn wir sehen, daß er aus übertriebener Furcht vor Schande sich nicht zu tun getraut, was andere seinesgleichen zu tun sich getrauen. Diesen Affekt können wir dem Hochmut gegenüberstellen, und ich werde ihn Kleinmut nennen. Denn wie aus der Selbstzufriedenheit Hochmut entspringt, so entspringt aus der Niedergeschlagenheit Kleinmut, den ich daher also definiere:
XXIX
Kleinmut ist, aus Unlust eine geringere Meinung von sich haben, als recht ist.
Erläuterung
Wir pflegen aber häufig dem Hochmut die Demut gegenüberzustellen; dann aber haben wir mehr die Wirkung dieser beiden Affekte als ihre Natur im Auge. Denn wir pflegen jemand hochmütig zu nennen, der sich übermäßig rühmt (s. Anmerkung zu Lehrsatz 30 dieses Teils), der von sich nur Vorzüge, von andern nur Fehler erzählt, der vor allen den Vorrang haben will und der endlich so gravitätisch und prunkvoll auftritt wie Leute von weit höherer Stellung. Umgekehrt nennen wir jemand demütig, der häufig errötet, der seine Fehler bekennt und die Vorzüge anderer erzählt, der gegen andere zurücksteht und der endlich mit gesenktem Haupt einhergeht und allen Prunk verschmäht.
Übrigens kommen diese Affekte, nämlich Demut und Kleinmut, sehr selten vor. Denn die menschliche Natur, an sich betrachtet, widerstrebt ihnen in hohem Grade (s. die Lehrsätze 13 und 54 dieses Teils). Daher sind die, welche für die Kleinmütigsten und Demütigsten gehalten werden, häufig die ehrgeizigsten und neidischsten.
XXX
[244] Ehre (Ehrfreude) ist Lust, verbunden mit der Idee einer eigenen Handlung, die wir uns von andern gelobt vorstellen.
XXXI
Scham ist Unlust, verbunden mit der Idee einer eigenen Handlung, die wir uns von andern getadelt vorstellen.
Erläuterung
Siehe hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 30 dieses Teils. Hier ist auf den Unterschied zwischen Scham und Schamhaftigkeit aufmerksam zu machen. Scham ist nämlich Unlust, welche auf eine Handlung folgt, der man sich schämt. Schamhaftigkeit aber ist Furcht oder Besorgnis vor Scham, durch welche der Mensch abgehalten wird, etwas Schimpfliches zu begehen. – Der Schamhaftigkeit pflegt man die Schamlosigkeit (Unverschämtheit) gegenüberzustellen, welche eigentlich kein Affekt ist, wie ich an geeigneter Stelle zeigen werde. – Indessen beziehen sich die Namen der Affekte (wie ich schon erinnert) mehr auf den Gebrauch als auf die Natur derselben.
Damit habe ich die Affekte der Lust und Unlust, deren Erklärung ich mir vorgesetzt, erledigt.
Ich gehe nun zu denen über, die ich auf die Begierde beziehe.
XXXII
Sehnsucht ist Begierde oder Verlangen nach dem Besitze eines Dinges, welches durch die Erinnerung an das betreffende Ding genährt wird, aber durch die Erinnerung an andere Dinge, welche die Existenz des verlangten Dinges ausschließen, eingeschränkt wird.
Erläuterung
Wenn wir uns an ein Ding erinnern, werden wir, wie schon oft bemerkt wurde, hierdurch disponiert, es mit[245] gleichem Affekt zu betrachten, wie wenn das Ding gegenwärtig wäre. Aber diese Disposition oder dieses Streben wird im wachen Zustand vielfach zurückgedrängt von den Vorstellungen der Dinge, welche die Existenz des Dinges, dessen wir uns erinnern, ausschließen. Wenn wir uns also eines Dinges erinnern, das uns mit irgendeiner Art von Lust erregt, streben wir eben dadurch, es mit demselben Affekt der Lust zu betrachten, als wäre es gegenwärtig; welches Streben aber sofort durch die Erinnerung an Dinge, welche die Existenz jenes Dinges ausschließen, zurückgedrängt wird. Darum ist Sehnsucht eigentlich Unlust, welche jener Lust gegenübersteht, die aus der Abwesenheit eines Dinges, das wir hassen, entspringt (s. hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 47 dieses Teils). Weil aber der Name Sehnsucht sich auf die Begierde zu beziehen scheint, darum rechne ich diesen Affekt zu den Affekten der Begierde.
XXXIII
Wetteifer ist Begierde nach einem Ding, welche in uns dadurch erzeugt wird, daß wir uns vorstellen, andere hätten diese Begierde.
Erläuterung
Wenn jemand flieht, weil er andere fliehen sieht, oder wenn jemand fürchtet, weil er andere fürchten sieht, oder auch wenn jemand, der sieht, wie ein anderer die Hand verbrannt hat, seine Hand deshalb zurückzieht und Körperbewegungen macht, als ob er seine eigene Hand verbrannt hätte, so sagen wir, daß er den Affekt eines andern nachahmt, aber nicht, daß er mit ihm wetteifert. Nicht etwa, weil uns eine besondere Ursache für die Nachahmung und eine besondere für den Wetteifer bekannt wäre, sondern weil sich der Gebrauch eingebürgert hat, daß wir mit Wetteifer nur die Nachahmung von solchen Handlungen bezeichnen, die wir für anständig, nützlich oder angenehm halten.[246]
Siehe übrigens über die Ursache des Wetteifers Lehrsatz 27 dieses Teils mit seiner Anmerkung. Über den Umstand aber, daß mit diesem Affekt häufig der Neid verbunden ist, s. Lehrsatz 32 dieses Teils mit seiner Anmerkung.
XXXIV
Dank oder Dankbarkeit ist die Begierde oder das Bestreben der Liebe, dem wohlzutun, der uns aus gleichem Affekt der Liebe wohlgetan hat (s. Lehrsatz 39 mit der Anmerkung zu Lehrsatz 41 dieses Teils).
XXXV
Wohlwollen ist die Begierde, dem wohlzutun, den wir bemitleiden (s. die Anmerkungen zu Lehrsatz 27 dieses Teils).
XXXVI
Zorn ist die Begierde, durch welche wir aus Haß gegen jemand angetrieben werden, dem Böses zuzufügen, den wir hassen (s. Lehrsatz 39 dieses Teils).
XXXVII
Rachsucht ist die Begierde, durch welche wir aus Gegenhaß angetrieben werden, dem Böses zuzufügen, der uns aus Haß Böses zugefügt hat (s. Zusatz II zu Lehrsatz 40 dieses Teils mit seiner Anmerkung).
XXXVIII
Grausamkeit oder Wut ist die Begierde, durch welche jemand angetrieben wird, dem Böses zuzufügen, den wir lieben oder den wir bemitleiden.
Erläuterung
Der Grausamkeit wird die Milde gegenübergestellt,
welche aber kein Leiden ist, sondern die Macht des Gemüts, mit welcher
der Mensch den Zorn oder die Rachsucht bändigt.
[247]
XXXIX
Scheu ist die Begierde, ein größeres Übel, das wir befürchten, durch ein geringeres zu vermeiden (s. Anmerkung zu Lehrsatz 39 dieses Teils).
XL
Kühnheit ist die Begierde, durch welche jemand angetrieben wird, etwas zu tun, trotz einer damit verbundenen Gefahr, die andere seinesgleichen von dieser Tat abhält.
XLI
Ängstlichkeit wird dem beigelegt, dessen Begierde eingeschränkt wird durch die Furcht vor einer Gefahr, welcher sich andere seinesgleichen beherzt unterziehen.
Erläuterung
Ängstlichkeit ist also nichts anderes als Furcht vor einem Übel, das die meisten nicht zu fürchten pflegen. Ich rechne sie daher nicht zu den Affekten der Begierde. Dennoch wollte ich sie hier nicht unerklärt lassen, weil sie, sofern wir die Begierde ins Auge fassen, dem Affekt der Kühnheit in der Tat entgegengesetzt ist.
XLII
Bestürzung wird dem beigelegt, dessen Begierde, ein Übel zu vermeiden, eingeschränkt wird durch die Verwunderung über ein Übel, das er fürchtet.
Erläuterung
Die Bestürzung ist daher eine Art der Ängstlichkeit. Weil aber die Bestürzung aus einer doppelten Furcht entspringt, so kann man sie treffender definieren als: Furcht, die den verblüfften und schwankenden Menschen so erfaßt, daß er das Übel nicht abwenden kann. Ich sage den »verblüfften«, sofern wir in der Verwunderung den Grund erblicken,[248] daß seine Begierde, das Übel abzuwenden eingeschränkt wird. Ich sage aber den »schwankenden« sofern wir erkennen, daß diese Begierde durch die Furcht vor einem andern Übel eingeschränkt wird, das ihn ebenso schreckt, so daß er nicht weiß, welches von beiden er abwenden soll.
Siehe hierüber die Anmerkung zu Lehrsatz 39 und die Anmerkung zu Lehrsatz 52 dieses Teils. Über Ängstlichkeit und Kühnheit s. die Anmerkung zu Lehrsatz 51 dieses Teils.
XLIII
Menschenfreundlichkeit oder Leutseligkeit ist die Begierde zu tun, was den Menschen gefällt, und zu unterlassen, was ihnen mißfällt.
XLIV
Ehrgeiz ist unmäßige Begierde nach Ehre.
Erläuterung
Ehrgeiz ist eine Begierde, durch welche alle Affekte (nach den Lehrsätzen 27 und 31 dieses Teils) genährt oder verstärkt werden. Daher ist dieser Affekt beinahe unüberwindlich. Denn solange der Mensch von irgendeiner andern Begierde erfaßt ist, ist er notwendig zugleich von dieser erfaßt. »Die besten Menschen«, sagt Cicero4, »werden sehr stark von Ruhmbegierde geleitet. Sogar die Philosophen setzen ihre Namen auf die Bücher, die sie über Verachtung des Ruhms schreiben usw.«
XLV
Schwelgerei ist die unmäßige Begierde oder auch Liebe zum Schmausen.
[249]
XLVI
Trunksucht ist unmäßige Begierde und Liebe zum Zechen.
XLVII
Habsucht (Geiz) ist unmäßige Begierde und Liebe zu Reichtümern.
XLVIII
Lüsternheit ist Begierde und Liebe zur fleischlichen Vermischung.
Erläuterung
Man pflegt diese Begierde zur Begattung, mag sie eine mäßige oder unmäßige sein, Lüsternheit zu nennen.
Diese fünf Affekte haben (wie ich in der Anmerkung zu Lehrsatz 56 erinnert habe) keinen Gegensatz. Denn die Leutseligkeit ist eine Art des Ehrgeizes; s. darüber die Anmerkung zu Lehrsatz 29 dieses Teils. Die Mäßigkeit, die Nüchternheit und die Keuschheit bezeichnen eine Macht des Geistes, nicht aber ein Leiden, wie ich ebenfalls bereits erwähnt habe. Und obgleich es vorkommt, daß ein habsüchtiger, ehrgeiziger oder furchtsamer Mensch sich des Übermaßes im Essen, Trinken und Beischlaf enthält, so sind doch Habsucht Ehrgeiz und Furcht keine Gegensätze zu Schwelgerei Trunksucht und Lüsternheit. Denn der Habsüchtige (Geizige) möchte in der Regel gern an fremder Tafel schwelgen. Der Ehrgeizige aber wird, wenn er hoffen kann, daß es verborgen bleibt, sich in keiner Sache mäßigen; ja, wenn er unter Zechern und Lüstlingen lebt, wird er, eben weil er ehrgeizig ist, sich diesen Lastern nur um so mehr hingeben. Der Furchtsame endlich tut das, was er nicht tun möchte. Denn wenn auch der Geizige, um dem Tod zu entgehen, seine Reichtümer ins Meer wirft, bleibt er doch ein Geiziger. Und wenn der Lüstling[250] betrübt ist, weil er seinem Hang nicht frönen kann, so hört er damit nicht auf, lüstern zu sein. Überhaupt beziehen sich diese Affekte nicht sowohl auf die eigentlichen Handlungen des Schmausens, Zechens usw. als auf das Verlangen und die Liebe. Es kann somit diesen Affekten nichts gegenübergestellt werden als der Edelsinn und die Selbstbeherrschung; darüber im folgenden.
Über die Definitionen der Eifersucht und der übrigen Gemütsschwankungen gehe ich hinweg, sowohl deswegen, weil sie durch eine Verbindung der bereits definierten Affekte entstehen, als auch darum, weil die meisten keine Namen haben; was zeigt, daß für das praktische Leben schon eine allgemeine Kenntnis derselben genügt.
Aus den Definitionen der Affekte, die wir erläutert haben, geht übrigens mit Klarheit hervor, daß sie alle aus der Begierde, der Lust oder der Unlust entspringen, oder vielmehr, daß alle nichts anderes sind als eben diese drei Affekte, von denen jeder mit verschiedenen Namen belegt wird, je nach den verschiedenen äußerlichen Beziehungen und Benennungen.
Wenn wir nun diese drei Hauptaffekte wie auch das, was oben über die Natur des Geistes ausgeführt wurde, ins Auge fassen, so werden wir die Affekte, sofern sie sich nur auf den Geist beziehen, folgendermaßen definieren können.
Allgemeine Definition der Affekte
Ein Affekt, auch Leidenschaft genannt, ist eine verworrene Idee, durch welche der Geist von seinem Körper oder einem Teil desselben eine größere oder geringere Existenzkraft bejaht als vorher und durch deren Vorhandensein der Geist selbst bestimmt wird, mehr an dies als an jenes zu denken.[251]
Erläuterung
Ich sage zuerst, ein Affekt, auch Leidenschaft genannt, sei eine verworrene Idee. Denn ich habe gezeigt (s. Lehrsatz 3 dieses Teils), daß der Geist nur insofern leidet, sofern er inadäquate oder verworrene Ideen hat. – Ich sage ferner, durch welche der Geist von seinem Körper oder einem Teil desselben eine größere oder geringere Existenzkraft bejaht als vorher. Denn alle Ideen, welche wir von Körpern haben, zeigen (nach Zusatz II zu Lehrsatz 16, Teil 2) mehr den wirklichen Zustand unseres Körpers als die Natur des äußern Körpers an. Diejenige Idee aber, welche die Form des Affekts ausmacht, muß denjenigen Zustand des Körpers oder eines Teils desselben anzeigen oder ausdrücken, welchen der Körper oder ein Teil desselben dadurch hat, daß sein Tätigkeitsvermögen oder seine Existenzkraft vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird.
Es ist aber zu beachten, daß, wenn ich sage: »eine größere oder geringere Existenzkraft als vorher«, ich nicht meine, daß der Geist den gegenwärtigen Zustand des Körpers mit dem vergangenen vergleicht, sondern daß die Idee, welche die Form des Affekts ausmacht, vom Körper etwas bejaht, was tatsächlich mehr oder weniger Realität in sich schließt als vorher. Und weil das Wesen des Geistes darin besteht (nach den Lehrsätzen 11 und 13, Teil 2), daß er die wirkliche Existenz seines Körpers bejaht und wir unter Vollkommenheit das eigentliche Wesen eines Dinges verstehen, so folgt, daß der Geist zu größerer oder geringerer Vollkommenheit übergeht, sobald es geschieht, daß er von seinem Körper oder von einem Teil desselben etwas bejaht, was mehr oder weniger Realität in sich schließt als vorher. Wenn ich also oben sagte, daß das Denkvermögen des Geistes vermehrt oder vermindert werde, so wollte ich nichts anderes sagen, als daß der Geist von seinem Körper oder von einem Teil desselben eine Idee gebildet habe, welche mehr oder[252] weniger Realität ausdrückt, als er von seinem Körper vorher bejaht hatte. Denn die Vorzüglichkeit der Ideen und das wirkliche Denkvermögen wird nach der Vorzüglichkeit des Objekts geschätzt.
Ich habe endlich noch hinzugefügt: und durch deren Vorhandensein der Geist selbst bestimmt wird, mehr an dies als an jenes zu denken, um damit außer der Natur der Lust und der Unlust, welche der erste Teil der Definitionen erläutert, auch die Natur der Begierde auszudrücken.[253]
1 | NB. Unter »Menschen« sind hier und im folgenden solche Menschen zu verstehen, für welche wir keinen Affekt empfinden. |
2 | Ovid, Liebeselegien, Buch II, Elegie 19, V. 5 und 6. |
3 | NB. Daß dies möglich ist, obgleich der menschliche Geist ein Teil des göttlichen Verstandes ist, habe ich in der Anmerkung zu Lehrsatz 13, Teil 2, gezeigt. |
4 | In seiner Rede für Archias. |
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